Dienstag, 21. Juli 2020

Lockdown in London: von letzten Partys, zwei Löffeln und Boris

Hello my dears,

meinen letzten Post begann ich mit den Worten: "Wenn jeder Tag in diesem Jahr wäre wie der erste, wäre ich wunschlos glücklich.". Oh man - ich fürchte ich bin nicht die Einzige deren Pläne für 2020 ein gaaaaanz kleines bisschen durcheinander gewirbelt wurden.

Fangen wir mal am Anfang an: Es muss Januar gewesen sein, als unsere chinesische Kollegin eine Email über die Situation in China geschickt hat. Ich erinnere mich noch ganz genau wie ich mich zu meiner Tischnachbarin rüberlehnte und sagte: "Was ist denn bitte Coronavirus?!" Nur ein paar Wochen später kamen die ersten Cancellations für Konzerte rein. Meine Künstler waren nicht betroffen, so wirklich Gedanken habe ich mir damals noch keine gemacht. Am 10. März bin ich nach Reading gefahren, wo eine meiner Künstlerinnen ein Konzert gegeben hat. Das war am Dienstag, ihre Tour sollte noch bis Sonntag gehen. Wir saßen in ihrer Garderobe und haben noch gescherzt ob sie die Tour überhaupt zu Ende spielen kann - aber wirklich besorgt waren wir nicht, es war doch nur eine Grippe und daran sterben jedes Jahr tausende von Menschen, warum also das große Drama. Und dann kam alles so viel anders als gedacht. 

Am Donnerstag wurde im Büro ein Plan aufgestellt, dass ab kommender Woche nur noch ein Drittel der Belegschaft ins Gebäude darf, wir würden also rotieren. Der Plan war auf vier Wochen ausgelegt, und ich weiß noch wie ich damals sagte "Auf keinen Fall werden wir so lange von Zuhause arbeiten, in zwei Wochen wird das bestimmt wieder zurückgenommen". Es war einfach so unvorstellbar, dass sich wirklich irgendetwas grundlegend ändern sollte. Am Freitag haben wir sogar noch wie geplant bei einer Kollegin Paddy's Day gefeiert, und uns nicht wirklich irgendwelche Gedanken gemacht ob das eine gute Idee ist - im Nachhinein war es leichtsinnig, aber das war damals einfach noch nicht abzuschätzen. 

Am Montag habe ich also den ersten Tag von Zuhause gearbeitet, am Abend gab Boris eine Pressekonferenz und bat alle die können von nun an von Zuhause zu arbeiten. Der Plan in Teams zu rotieren hat also genau einen Tag lang gehalten. Am Dienstag durfte ich noch einmal ins Büro, um meine Sachen zu holen, und das war es dann. Das war der 18. März - eine Woche nachdem ich in der Künstlergarderobe saß und gescherzt habe dass es schon nicht so schlimm ist. That escalated quickly, wie man hier sagen würde. 

Wir waren also von nun an beide Zuhause, 24/7. Denn zwei Wochen vorher haben wir schweren Herzens in Edinburgh unsere Sachen gepackt und sind nach London gezogen. Philip musste seine Doktorarbeit nur noch fertig schreiben, brauchte also nicht mehr im Büro zu sein. Er hatte ein super Projekt zum Übergang gefunden, bei dem er zwischen Ende März und Mai nach Uganda, Indien und Kasachstan hätte fliegen sollen, um dort zu forschen. In der Zeit wollte ich noch weiter bei der Familie wohnen bei der ich untergekommen war, unseren Urlaub wollten wir in Uganda und Indien verbringen, und dann im Mai uns eine eigene Wohnung in London suchen. An einem Freitag Abend buchten wir die Flüge nach Uganda - am Montag verhängt das Land eine Einreisesperre für Reisende aus Großbritannien. Spitzen Timing. 

Ein langes Wochenende in dieser ersten Woche wollten wir uns nach Cornwall flüchten, um wenigstens das von Zuhause arbeiten mit ein bisschen Surfen zu verbinden. Donnerstag und Freitag hat das auch geklappt, Freitag Abend verkündete Boris jedoch dass alle Restaurants und Pubs geschlossen werden sollen - und daraufhin hat uns auch unser Hotel rausgeschmissen. Wir waren nun also beide in meinem kleinen, ca. 10 qm großem Zimmer, mit unserem kompletten Hab und Gut aus unserer Wohnung in Edinburgh, in einem Haus mit drei Kindern unter sechs Jahren. Und das den ganzen Tag. Jeden Tag.

Auf Dauer ist das leider nicht auszuhalten, weswegen wir uns sehr schnell auf die Suche nach etwas anderem gemacht haben. Eigentlich wollten wir ja warten bis wir wussten wo Philip dann langfristig arbeiten wird, weil der Arbeitsweg in London wirklich ausschlaggebend für die Wohnung ist, aber wir konnten nicht mehr länger warten. Nach etlichen Besichtigungen sehr bescheidener Wohnungen haben wir dann ein echtes Juwel gefunden - brand neu renoviert und ausgestattet, in einer ruhigen kleinen Straße, 5 Minuten zu Fuß vom Haus der Familie und somit wenigstens für mich super nah am Büro. Es war ideal! Am Tag der Besichtigung wurde dann der komplette Lockdown von Boris verkündet - man durfte von nun an nur noch zum Einkaufen und Sport machen raus, maximal eine Stunde am Tag. Unseren Umzug haben wir trotzdem ganz gut über die Bühne bekommen, nur standen wir jetzt Ende März in einer fast leeren Wohnung, die außer einem Schrank, Bett und Sofa nichts hatte. Auch keine Teller und Töpfe. Und Einkaufen war im Moment auch ein bisschen schwierig, wenn alle Läden außer Supermärkte geschlossen sind...

Voller Glück dass wenigstens nach zwei Tagen der Ingenieur kam und das Wifi von nun an funktionierte, lebten wir also über zwei Wochen mit drei Plastetellern, zwei Löffeln, einer Gabel, und einem kleinen Topf den wir im Supermarkt finden konnten. Schön war es nicht aber kreativ, Fleisch und Reis mussten eben nacheinander gekocht werden und die Lasagne in der runden Springform hat genauso gut geschmeckt, trotz ihrere seltsamen Form. Und dann kam endlich die lang ersehnte IKEA Lieferung - online bestellen ging nämlich super! Überhaupt, in diesen ersten paar Wochen waren wir Amazon's beste Kunden - fast jeden Tag kam irgendeine Lieferung, von Regalen über Gläsern bis hin zu Staubsauger und Wasserkocher. Kann man alles auch online kaufen! 

Und so zogen die Wochen ins Land, aus Wochen wurden Monate, die Fallzahlen stiegen und stiegen und so langsam hatte man das Gefühl Großbritannien kommt gar nicht mehr aus der Krise. Ich weiß noch wie es ganz am Anfang in Deutschland schon über 5000 Fälle waren, wo es hier quasi noch gar nichts gab. Im April und Mai waren wir dann bei knapp 1000 Todesfällen pro Tag in der UK, während sich die Todeszahlen in Deutschland sehr in Grenzen hielten. Die Pressekonferenzen von Boris und seinen Gefährten wurden zu festen Bestandteilen des Abendprogramms, genauso wie das Klatschen für alle Mitarbeiter im Gesundheitssystem jeden Donnerstag (fair bezahlen können wir sie ja nicht, aber wenigstens bekommen sie Beifall). 

Einige der Regelungen die man in Deutschland hatte wurden jeweils gut zwei Wochen später auch hier festgelegt, einiges ist aber bis heute unerklärlich. Fast ganz Europa verhängt Quarantäne für Einreisende - nach Großbritannien kam man noch bis Anfang Juni ohne dass es irgendjemanden interessieren würde. An 8. Juni galt die Quarantäne dann, aber nur bis 10 Juli, wo sie für viele europäische Länder wieder abgeschafft wurde. Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen - kann man mal drüber nachdenken, soll jetzt ab Ende Juli kommen. Und die Liste geht weiter! Wochenlang hat die Regierung angekündigt ab Mai solle es 100,000 Tests pro Tag geben - das ganze wurde dann in den ersten paar Wochen ungefähr drei mal erreicht, und dementsprechend standen Boris und Freunde mit geschwollener Brust auf dem Podium und waren unendlich stolz auf ihre Taten. Man hat das Gefühl dass die UK viele der doch für mich als Laie sinnvollen Maßnahmen erst einmal ablehnt, einfach weil sie nicht das machen wollen was alle anderen in der EU machen, nur um es dann Monate später, wenn es nicht mehr wirklich angebracht ist, doch durch zuziehen - aber aus anderen Gründen natürlich! Die Corona Warn-App, die die beste überhaupt und viel besser als die der anderen EU Länder sein sollte, dauert leider auch länger als gedacht, und soll jetzt im Oktober kommen. Thanks, Boris! 

Ich weiß dass ich kein Experte bin und es immer leicht ist zu schimpfen, wenn man nicht selbst Lösungsansätze mitbringt. Aber manchmal hat man sich doch an den Kopf gegriffen und sich gefragt warum das Land so stur ist, wenn es doch gleichzeitig auch so fürchterlich hohe Fallzahlen und unendlich viele Todeszahlen hat. Hätte es so weit kommen müssen? Auch das marode britische Gesundheitssystem ist hier natürlich ein Faktor, davon mal ganz zu schweigen, aber vielleicht hätte eine andere Strategie das ganze wenigstens ein bisschen besser eindämmen können. 

Nach knapp 10 Wochen im Lockdown hatten wir jedenfalls wenig Lust noch länger in unserer wunderschönen, aber eben doch sehr kleinen Wohnung eingesperrt zu sein, und sind nach Hause geflogen. Das ganze haben wir so wunderbar abgepasst, dass wir in Deutschland auch nicht mehr in Quarantäne mussten, und so unbeschwert einen Sommer zuhause genießen konnten. Zwei Monate ist das her, und abgesehen von ein paar Tagen an denen wir noch einmal nach London mussten, werden wir auch hier bleiben bis sich die Lage beruhigt hat. Bisher wurde bei uns beiden gesagt, dass es auf keinen Fall vor September ins jeweilige Büro geht, vielleicht auch später. Ich habe schon jetzt mehr Zeit zuhause und mit meiner Familie verbracht als in den letzten sechs Jahren zusammen - so gesehen war 2020 vielleicht doch nicht ganz der Reinfall, nach dem es eine ganze Weile aussah. 

Take care!